Jan de Beus
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‘Der Kunstliebhaber des zwanzigsten Jahrhunderts sieht sein Augenlicht als Gabe der Natur, tatsächlich ist es ein Produkt der Geschichte.‘ Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst

JAN DE BEUS: Lehm, Modder und Kuhkacke

Von Leon Hanssen

LITERATUR UND TRADITON IN DER MALEREI VON JAN DE BEUS

Jan de Beus (Muiderberg 1958) schloss sich zu Beginn der Achtzigerjahre einer Gruppe von Malern in Berlin an, die internationale Bekanntheit erlangte unter dem Namen Neue Wilde. Anschließend unternahm er Fernreisen, unter anderem zu den Pazifischen Inseln, wo er die Gräber von Paul Gauguin und dem Schriftsteller Robert Louis Stevenson besuchte - Signale für das wachsende Interesse von De Beus für die Tradition in der Malerei und der Literatur. Sein Werk, das schon früh im In- und Aus- land ausgestellt wurde, zeichnet sich durch eine sehr expressionistische Darstellung von kulturhistorischen Themen aus, die oft zurückgehen auf die Romantik, die klassischen Mythen oder die Bibel. In dem pastosen Farbauftrag zeigt die Malerei van Jan de Beus Verwandtschaft mit der älterer, nicht niederländischer, Künstler wie zum Beispiel Frank Auerbach, Leon Kossoff und Eugene Leroy, aber auch mit der Malerei von niederländischen Zeitgenossen wie Marie-José Robben und Marc Mulders. Sie alle sind Ausbeuter der Farbe. In dem folgenden Gespräch steht die Frage nach De Beus‘ Umgang mit der kulturhistorischen Tradition zentral sowie die Art und Weise in der er literarische Themen in die Malerei übersetzt und ihnen damit eine neue Bedeutung gibt.
JdB
Was ich als Maler in der Literatur wiederfinde, ist häufig von autobiographischer Art: die Erkenntnis, dass Schriftsteller mit denselben Problemen beschäftigt waren und Lösungen suchten. Nur, dass ich das Bild als Medium gewählt habe und sie die Sprache. Schau mal, was ich in einer Serie von Gemälden, den Souvenirs de Nerval (1984/85) gemacht habe, die sich mit dem französischen, romantischen Dichter Gdrard de Nerval beschäftigen. In allen Gemälden kehrt die Verbindung zwischen Nerval - seinem Leben, seinem Werk - und Motiven des Makabren, des Erotischen zurück. Das erste Bild, Osiris, zeigt einen Friedhof, über den ein Geist hetzt. In Todeskampf bekommt Nerval, auf seinem Bett liegend, Besuch von einer Dame in Lingerie. Eine Sterbeszene? Historisch gesehen ist das natürlich problematisch, wenn man bedenkt, dass Nerval nicht in seinem Bett gestorben ist, sondern sich nachts auf einer Pariser Straße an einem Gitter aufgehängt hat. Also eher eine Schauerphantasie! Genauso wie das dritte Bild, ein Hochformat, auf dem ein Mann von einem Totenschädel einen geblasen bekommt. Das nächste Gemälde, Statue, enthält teilweise einen Hinweis auf Gerrit Achterberg, dessen Gedichte ich damals auch gelesen habe. Jedesmal bin ich, angeregt durch das Leben und die Lektüre von Nerval, ins Phantasieren gekommen und habe die Phantasien kombiniert mit allerlei anderen momentanen Eindrücken. Das fünfte Bild schließlich, ein Querformat mit zwei Frauen in einer Sturmlandschaft, ist inspiriert durch eine erotische Zeichnung von Gustav Klimt. Aber was hat Klimt mit Nerval zu schaffen? Und was hat Nerval wiederum mit mir zu tun? Der Punkt war, dass ich beim Lesen von Nervals Sylvie unwillkürlich eine Verbindung hergestellt habe mit Klimts Zeichnung von den beiden nackten Frauen. Später habe ich dann Nervals Grab besucht und diese Pilgerfahrt hatte ein weiteres Bild zur Folge: Am Grabe G&ard de Nervals. Das sind alles lose Steine, die ich zusammengefügt habe, sodass eine Serie mit dem übergreifenden Titel Souvenirs de Nerval entstand. Aber Vorsicht, ich bin absolut kein Illustrator wie Alfred Kubin - übrigens ein Meister des Makabren - der Zeichnungen zu Nervals Aurelia gemacht hat, zum Beispiel eine Frau, die sich mit einem Messer durchbohrt. Es sind und bleiben Illustrationen, wie prächtig sie auch seien. Fünfzehn Jahre später bin ich nun zu Nerval zurückgekehrt und habe zwei kleine Ölbilder gemalt, die durch sein Gedicht El Desdichado inspiriert sind, abstrakte Bildentwürfe diesmal, in dicker Farbe.


LH Das Gelesene muss in einem bestimmten Moment Form werden, ich meine Bildform. Nur, wie kann der Wechselfaktor beim Übersetzen von literarischer Form in malerische Form beschrieben werden: was bleibt gleich an dem Bild und was verändert sich? Und welche Rolle spielt bei der Umsetzung das deutlichste malerische Element, die Farbe?
Die Farbe ist meine Schrift. Damit schreibe ich, ob das nun über die Literatur ist oder über die Musik, die mir genauso wichtig ist. Um zwei andere Arbeiten aus dieser Periode zu nehmen, Stürmisch bewegtl &II (1983), angeregt durch den ersten Teil der ersten Symphonie von Gustav Mahler. Das sind in der Tat Versuche, die Musik in malerische Formen umzusetzen.


Du hast es zu tun mit zwei verschiedenen Medien wodurch sich folgendes Problem ergibt: wie übersetze ich von einem Medium in das andere? Du gibst einem literarischen Text, der an sich schon eine Darstellung ist, eine Form in einem neuen Medium. Sobald du den Pinsel zur Hand nimmst, betrittst du eine Welt mit anderen Gesetzmässigkeiten. Was nicht bedeutet, dass du dich nicht in Beziehung setzt zu den anderen Autoren: dem Dichter, dem Komponisten, dem Sänger. Was ich mit dir versuchen möchte, ist dieses in Beziehung setzen, das zugleich ein Verfremden ist, eine fundamentale Transformierung, und ein sich Annähern, eine Art von Liebesgeste, so sauber wie möglich in Worte zu kleiden.
Ich muss an etwas anderes denken. In der Geschichte der Oper gab es wunderbare, klassische Aufführungen. Früher wurde noch ganz realistisch das Pferd Grane auf die Bühne geführt am Ende der Götterdämmerung, aber heute macht man das anders. Wütende Wagnerliebhaber haben eine Inszenierung von Werner Schröter in Duisburg verlassen, weil Isolde während ihres Liebestodes nicht sterben durfte! Er hatte sogar die Russische Revolution bemüht. Nee, da springt plötzlich ein Matrose ins Feuer und es scheint, als hätte Tristan ein Verhältnis mit Kurwenal, seinem Schildknappen, statt mit Isolde und Isolde ihrerseits eine Affäre mit Brangäne statt mit Tristan. Sie sehen sich auch überhaupt nicht an in dieser Inszenierung. Der Herr Schröter hat alle Regieanweisungen von Wagner verändert. Er schafft eigentlich ein neues, autonomes Kunstwerk, während er sich Musik und Text von Wagner leiht. Nur geht man dann nicht zu einer Wagner-Aufführung, sondern zu einer Schröter-Aufführung.


Es gibt kein Gesetz, das das verbietet.
Nein, niemand verbietet das, auch wenn es sehr weit geht. Wenn ich eine biblische Historie male, dann ist das Gemälde die Darstellung einer sehr konkreten Geschichte, so, wie diese in der Bibel beschrieben wird. Ob das nun die Flucht nach Ägypten, Jakobs Streit mit dem Engel, oder die Anbetung der Könige ist. Die Geschichten reizen mich: manchmal können es alte Graphiken sein, aber auch neuere Interpretationen, die ich dann wiederum als Ausgangspunkt nehme, beispielsweise ein Bild von Max Slevogt oder den Marsyas von Tizian. Picasso lieh sich alles was nicht niet- und nagelfest war. In der Tradition geschieht soviel.


Du machst einen Unterschied zwischen ‘illustrieren‘ und ‘leihen‘. Beides praktizierst du selbst und für beides findest du eine Legitimation in der Geschichte: Slevogt und Picasso haben es getan, Kossoff tut es. Aber wenn du über Schröter sprichst, höre ich einen sehr kritischen Ton. Warum darf er nicht, was Picasso erlaubt ist?
Ich finde in dieser Interpretation keinen Respekt mehr für Wagners Werk, wie faszinierend sie auch gewesen sein mag. Nimm dagegen die Inszenierung von Heiner Müller (Bayreuth 1993-1999). Wenn sich auch die verstockten Wagnerianer darüber beschweren, dass die Romantik weg ist, man findet darin doch etwas von... Liebe, und die ist eines der wesentlichen Merkmale des ganzen Tristans; was Schröter ignoriert.


Du benutzt den Begriff ‘leihen‘. Etwas was man sich leiht, muss man auch wieder zurückgeben. Vielleicht ist es das, was Schröter mit Wagner macht:
ihm sein Werk zurückgeben - nachdem er es gebraucht und etwas hinzugefügt hat.
Ich leihe mir in diesem Sinn auch etwas, als eine Hommage an den Künstler. Und ich versuche, etwas von meiner Liebe und Bewunderung hinzuzufügen. In einem Text über meine Arbeit verwendet Jurrie Poot, der Konservator der Graphischen Sammlung vom Stedelijk Museum in Amsterdam, die Formulierung ‘liebevoll erinnern‘ (die er wiederum entleiht bei Souvenirs pieux von Marguerite Yourcenar). Damit fühle ich mich gut beschrieben. Ich male schließlich nach Nerval, Bruckner oder Mahler: das sind beinahe Hommagen an das neunzehnte Jahrhundert. In den Paraphrasen des französichen Malers und Graphikers Henri Fantin-Latour auf die Musik von Wagner und Berlioz erkenne ich etwas wieder. Natürlich wird es Bildsprache durch meine Handschrift, aber im Vergleich mit dem literarischen oder musikalischen Ursprung des Dargestellten ist die Farbe von geringer Bedeutung. Ich könnte dieselbe Darstellung auch in ganz dünner Farbe malen. Wenn man die Material- qualität der Farbe anspricht, begibt man sich auf das Terrain der Malerei, und da geht es um andere Dinge.


Aber du bringst doch auch eigene Assoziationen in deine Darstellungen ein. Ich bin beinahe geneigt, Schröter zu verteidigen. Der Ausgangspunkt eines jeden Künstlers ist der Kanon der klassischen Themen. Klassisch ist die Marsyas-lnterpretation van Tizian (Das Urteil des Marsyas, ca. 1 570-76: Bischöfliches Museum, Kromeriz, Slowakei). Marsyas, der Flöte spielende Frygier, war so von seinem Können überzeugt, dass er Apollo zu einem Vergleich herausforderte. Er verlor das Duell, woraufhin Apollo ihn bei lebendigem Leibe häuten ließ. Tizian zeigt Marsyas, kopfüber an einem Baum hängend, mit der Flöte als Zeichen der Warnung neben sich. Das ist eine schöne Geschichte: Pan, der Gott der Frucht- barkeit, hält einen Eimer bereit, um das Blut von Marsyas aufzufangen. Du selbst hast das Thema, angeregt durch Tizian, einige Male dargestellt. Jeder Künstler nimmt den Fehdehandschuh auf und beginnt den Kampf, auf die Gefahr hin, kopfüber zu hängen, lebendig gehäutet zu werden. Mit wem suchst du die Auseinandersetzung, und welche Waffen wirfst du ins Feld?

Ich sehe mich in der Tat als klassischen Künstler. Was die Manier des Malens angeht, so ist meine Arbeit verwandt mit der von pastos arbeitenden Malern wie zum Beispiel Frank Auerbach, Leon Kossoff oder Eugène Leroy. Diese Manier geht zurück auf die des späten Monticelli, welche wiederum zurückgeht auf Fragonard und Watteau - alles fließt. Meine Bildthemen hingegen haben zu tun mit den romantischen Bildinhalten der Präraphaeliten, ohne, dass dabei von Epigonentum gesprochen werden kann, denn die Handschrift, die Pinselstriche die ich setze sind deutlich von mir selbst, wie auch die Interpretation des Themas.

Es ist deutlich, dass jeder Maler im Verhältnis steht zu der kunsthistorischen und kulturhistorischen Tradition. Via Watteau und den ‘grand göut‘ am Hofe Ludwigs des xiv findet man in der Tat den Zugang zur Welt der mythologischen Figuren und christ- lichen Themen die damals noch zum Kanon der Bildthemen eines Künstlers gehörten. Auf diese Weise kann man wundervolle Stammbäume entwerfen. Aber es bleibt neben der Frage, was die Tradition mit dir tut auch die Frage, was du mit der Tradition tust, und was du ihr zurückgibst. Willst du wirklich etwas zurückgeben, das deutlich von dir selbst ist, dann musst du - um ein Wort aus der neo-romantischen Literaturtheorie zu benutzen, das in letzter Zeit häufiger verwendet wird - das Werk wie eine Melodie ‘frei singen‘ von seinem Ursprung. Das ist ein komplizierter Prozess, ein Manipulationsprozess...
In dem Gedicht Hyperion von Keats gibt es die Zeile ‘Deep in the shady sadness of a vale.‘ Allein diese Zeile ruft bei mir ein Gefühl von solcher Schönheit hervor, dass ich versuche, diese Schönheit in meiner Malerei wiederzugeben - oder in der Tat: zurückzugeben. Dafür habe ich das Gedicht als Ganzes nicht nötig.


Vielleicht müssen wir den Begriff ‘Erfahrung‘ verwenden statt ‘Gefühl‘. Dieses Wort hast du selbst benutzt, als du sagtest: ‘Die Basis des künstlerischen Schaffensprozesses ist die Erfahrung.‘ Die Gedichtzeile von Keats hat ihren Ursprung in einer Erfahrung, die er nur in einem Bild, einer Metapher formulieren konnte. Die Methapher soll - über einen Umweg - etwas ausdrücken. Wenn du beginnst zu malen, stehst du am Beginn eines neuen Umweges. Mit dem, was du malst, willst du an eine Erfahrung referieren. Aber tatsächlich gestaltest du ein Bild, das seinen Ursprung verbirgt. Du kreierst eine neue Erfahrung, die der alten im Wege steht. Ein Bild entsteht, das, kennt man den Titel nicht, keine Verbindung mit Keats vermuten lässt.
So gesehen ist die Zeile in der Tat ein Anstoß. um das Gemälde zu beginnen, nicht mehr und mehr weniger. Eine andere Zeile, diesmal aus Bridesheade Revisited, ist ‘Et in Arcadia Ego‘ (‘Auch ich war einst im Paradies‘ ‚ nach dem Titel eines Gemäldes von Nicolas Poussin). Ich kann mich am Ende dieses Jahrhunderts gut identifizieren mit dem Thema Unschuld, das ich auch idealisiere und romantisiere. Ob das nun junge Mädchen sind oder mein Bauernleben - ich selbst bin kein Bauer, aber ein Bauernsohn. Meine Malerei ist vergleichbar mit dem Bearbeiten des Ackerlandes: Ich beginne im Frühjahr mit soundsovielen weißen Leinwänden, die ich als Saat sehe. Dann arbeite ich den Sommer über und im Herbst sind die Bilder dann fertig, gereift. Die Ernte, das ist das Photographieren der Bilder, das Einrahmen. Wo bleibt die Literatur, kannst du jetzt fragen. Ich suche mir die romantischen Schriftsteller raus, weil die, teilweise aus Unzufriedenheit über die Wirklichkeit, Phantasien Form gegeben haben, Phantasien über Unschuld und das arkadische Leben. Um auf Gérard de Nerval zurück zu kommen, er machte eine unerwiderte Liebe zu Jenny Colon durch. Was tat er damit? Er schrieb; so entstand Sylvie, die ultimative Liebeserklärung. In seiner Phantasie wird sie seine Mutter, die Jungfrau Maria, Isis. Da finde ich mich wieder. Meine Verliebtheiten können mir einen enormen Impuls geben und bekommen später einen Platz in meinen Bildern.


Brauchst du die Klassiker als Referenz um dein eigenes Leben ‘aufzuwerten‘?
Ob ich das nötig habe, weiß ich nicht, es geschieht. Ich male Bilder mit klassischen Themen aufgrund einer Seelenverwandschaft mit vor allem den Romantikern, aber auf eine Art und Weise, wie sie noch nie gemacht wurden. Ich habe eine Privat-Mythologie geschaffen.


Den Begriff ‘aufwerten‘ meine ich vor allem in Bezug auf deine nicht eben optimistische Sicht auf die Kultur des ausgehenden zwanzigsten Jahr- hunderts. Romantik könnte für dich eine Möglich- keit sein, mit der Realität zu leben.
Ich fühle mich nicht als Sonderling. Ich habe einen Sohn von acht Jahren, das verpflichtet für die Zu- kunft. Aber im Wesen bin ich entsetzlich altmodisch. Computer? Gib mir mal Papier und Bleistift. Ich entscheide, ob ich etwas mitmache oder nicht. Mit der Realität leben kann ich ganz gut, aber ich habe schon meine eigene Lebensart.


Worauf ich hinaus will, ist der kulturkritische Aspekt in deinem Werk. Anschluss an die Tradition zu suchen, bedeutet auch, den Vorgängern die Hand zu reichen, auf ihren Schultern zu stehen. Das Interessante an Schröter ist nun, dass er etwas weitergibt: er steht sehr wackelig auf Wagners Schultern. Aber vielleicht ist der Balanceakt die Essenz des sich in eine Tradition stellen und diese fort- führen. Dass Schröter in Tristan und Isolde, der Liebesoper überhaupt, zeigt, dass heute nur noch kalte Liebe, oder überhaupt keine Liebe mehr bestehen kann, ist vielleicht die beste kulturkritische Antwort anno 2000, die Wagner sich wünschen kann. Man kann Tristan undisolde sehr gut autobiographisch interpretieren im Hinblick auf Wagners unerwiderte Liebe für Mathilde Wesendonck. (Sowie die größten künstlerischen Leistungen vielleicht nichts anderes sind als Klageseufzer über unglückliche Lieben.) Aber da ist auch eine starke kulturkritische Seite in Wagners Werk zu erkennen. Er äußert eine fundamentale Kritik am Verfall der Kultur. Es existiert keine Einheit mehr von Leben und Erfahrung, wir haben uns von unseren Erfahrungen entfremdet, lassen uns ein vorbestimmtes Leben aufdrängen, haben den Kontakt mit unserem Verlangen nach Liebe verloren, mit der Notwendigkeit von Reflektion und Verinnerlichung. Wir haben das ursprüngliche, tragische Konzept vom Leben, wie es die alten Griechen entwickelten, verloren. Wagner will diese Einheit wieder herstellen. Seit dem neunzehnten Jahrhundert ist jeder Künstler auch ein Gesellschaftskritiker. Es findet eine Verselbständigung, eine Autonomisierung der Künstlerschaft statt; der Künstler sieht sich allein in der Gesellschaft und muss für sich selbst sorgen. Das merk- würdige daran ist, dass der Künstler anfängt, die neue bürgerliche, kapitalistische Gesellschaft kritisch zu betrachten. Die kulturkritische Tradition, in der Wagner steht und die durch Nietzsche theoretisch begründet wurde, lebt bis heute weiter. Was macht die moderne Kultur aus, oder was fehlt ihr gerade, was uns dazu bringt, die ursprüngliche Erfahrung im Kontext von Unschuld, Liebe und Arkadien zu suchen?
Das von mir idealisierte, unverdorbene Landleben steht in totalem Gegensatz zur Realität, das gebe ich zu. Das sieht man auch an Muiderberg, dem wunder- baren Dorf in dem ich lebe. Das ist ein Reservat. Die Hochmasten, die Bahngleise, die Autobahn — alles läuft um das Dorfherum. Wenn ich Muiderberg male, dann ist das keine aktuelle Landschaft, dann romantisiere ich. Mein Gott, wenn du Nietzsches Übermenschen- und Sklavenmoral ansprichst, ich finde doch, dass wir ziemlich damit beschäftigt sind, an unserer ultimativen Skiavenmoral zu basteln. In Ostdeutschland ist alles innerhalb von wenigen Jahren zum Einheitsbrei verkommen. Die Schauspielerin und Sängerin Gisela May hat in einem Interview davor gewarnt, dass bald alle Städte gleich aussehen werden, nur noch an ihren rausgeputzten alten Stadtzentren zu unterscheiden. Meine Schulbildung ist so minimal, weil ich es ein- fach nicht mehr hören konnte: du musst dies tun, du musst das tun. Ich war interessiert an Geschichte, Zeichnen und Malen. Ich bin dann auch mit fünfzehn von der Schule abgegangen. Alles, was ich weiß, habe ich mir von da an selbst beigebracht. Persönliche Frei- heit, das fehlt den Menschen. Wir können zwar sagen, dass wir mehr Freizeit haben als je zuvor, dass wir alles tun und lassen können, was wir wollen, aber meine Güte, auf der anderen Seite können wir viel weniger. Ich mache was ich will, wie ich es will und wann ich es will. Ich verkaufe meine Arbeiten und kann davon leben, aber wenn ich diese meine Welt verlasse, dann fühle ich mich unwohl. In meiner Kindheit hatten wir einen Bauernhof. Mein Vater passte sich nicht an den Fortschritt an, er wollte die Dinge auf seine Art machen. Wir waren die letzten mit Pferd und Wagen in Muiderberg. Schon als kleiner Junge lief ich aus der Schule weg, über die Straße, übers Feld bis zum Bauernhof, da wollte ich meinem Vater helfen. Zeichnen und Malen konnte ich auch zu Hause. Als Kind habe ich meinen Vater romantisiert, ihn als Ritter gesehen, von der Ritterzeit war ich begeistert. Jahrelang habe ich später in Archiven gesessen, um rauszufinden woher ich kam, waren wir Ritter oder Fussvolk? Meine Mutter kommt aus der Familie der Erfgooiers, die sich im zwanzigsten Jahr- hundert auf Rechte aus der Zeit von Floris v beriefen: Steuerfreiheit, Jagdrecht. Ist schon verrückt, wir sind schließlich siebenhundert Jahre weiter. Alles ging gut bis in die Zwanziger dieses Jahrhunderts. Da gab es plötzlich Autos. Ein Herr Floris Vos gründete in dieser Zeit die Partei der Erfgooiers und meinte, das wäre ja alles prima, aber sie würden keine Steuern zahlen, sie hätten schließlich Steuerfreiheit. Es ging natürlich um Pfennige, aber die alten Privilegien lagen wieder auf dem Tisch. Ein Cousin meiner Grossmutter wurde beim Jagen von der Polizei angehalten. Er hatte einen Hasen aufdem Land von Königin Wilhelmina geschossen. Pech für die Polizei, wir hatten das Jagdrecht. Diese Geschichten machten enorm großen Eindruck auf mich. Ich kam dadurch auf lauter Robin-Hood-Phantasien, die mich auch sehr empfänglich gemacht haben für so ein Buch wie
Die Schatzinsel. Später bin ich dann zur Insel Samoa gereist, um das Grab von Robert Louis Stevenson zu besuchen. Ich hab dann auch eine ganze Reihe von Piratenbildern gemacht. Das Zitatvon Melville ‘stick to the dreams of thy youth‘ ist mir wie auf den Leib geschrieben. Ich male nicht, um die Welt zu verbessern. Es gibt zwar eine Serie von Bildern aus meiner Zeit als ‘Junger Wilder‘ mit dem Titel: Landschaft mit blutenden Bildern (1980), in der ich eine Verbindung schaffe zwischen den Napoleonischen Kriegen und Hitler-Deutschland, situiert in einer Landschaft in West-Flandern. Das war wirklich eine Anklage gegen den Krieg. In den Protest-jahren gegen das Wettrüsten und die Cruise Missiles (die wurden vor kurzem gegen Serbien eingesetzt) habe ich auf dem Museumplein und dem Malieveld in Den Haag demonstriert. Ich habe auch den Kriegsdienst verweigert. Aber alles kommt immer wieder auf die mdi- viduelle Freiheit zurück. Ich erinnere mich noch an einen jungen Politologen, der schon 1978 zu mir gesagt hat: du musst dich weiter um nichts kümmern, mach du mal deine Bilder, das ist wichtig genug für diese Gesellschaft. Das ist hängen geblieben. So bin ich auch erzogen - mach du mal was du für wichtig hältst. Vergiss nicht, wir sind Bauern und mit den Bauern ist es wie mit den Künstlern. Irgendwann heißt es doch: die sind faul und - Bauern sind dumm. Damit wächst man auf. Ich hatte allerdings etwas Kultur zu Hause. Ja, die Kinderbibel, da kommen meine ersten Bildeindrücke her. Vielleicht ist es ja ganz therapheutisch, was ich mache, vielleicht male ich mir meine Kinderträume von der Seele.


Und du malst auf etwas hin, auf die Wiedergewinnung einer Erfahrung, die dir diese Welt nicht gönnt, auf jedem Fall nicht gibt.
Der Lehm, der Modder, die Kuhkacke, darauf kommt alles wieder zurück. Daher meine pastose Malweise. Dass ich Maler werden wollte, wusste ich schon in der Grundschule. Bauer werden? Vergiss es. All die kleinen Bauern bei uns im Dorf, das war nichts mehr. Oder man musste das ganz gross aufziehen und anders machen. Mein Vater fuhr noch mit Pferd und Wagen, der hatte sich ausgeklinkt. Wir hatten zwei Äcker gepachtet. Aufeinem stehtjetzt ein Altersheim, aus dem anderen wächst die Brücke nach Flevoland heraus. Als ich in der sechsten Klasse war, hatten wir schon keinen Bauernhof mehr, das Vieh war gerade weg. Wir wohnten (und wohnen) noch in der Echo- hoeve mit Aussicht auf einen der ältesten und schönsten jüdischen Friedhöfe der Niederlande, und schon damals war mir klar, dass ich Maler werden wollte. In der dritten Klasse haben wir einen Ausflug zum Kröller-Müller-Museum gemacht — ich fand‘s herrlich. Meine Klassenkameraden liefen schreiend und plärrend ‘rum und konnten damit nichts anfangen. Aber auf mich machten die Bilder von Van Gogh furchtbar viel Eindruck, genauso wie die mittelalterliche Nackte von Cranach, die da hängt. Damit wollte ich später zu tun haben. Meine Eltern meinten: du willst Maler werden, dann werd‘ Schildermaler, Cousin Kees verdient gutes Geld damit. Also wurde ich auf Empfehlung des Klassenlehrers auf die Technische Schule in Bussum geschickt. EinJahr lang mit dem Rad nach Bussum. Es war eine Katastrophe. Die Abteilung für Schildermaler hatte man übrigens schon zehn Jahre zuvor aufgegeben. Dann mal zur Hauptschule. Im zweiten Jahr hat man mich rausgeschmissen, bis Weihnachten hatte ich nichts getan. ‘Wenn du nichts lernen willst, dann geh‘ mal arbeiten, du hast ja schließlich zwei Hände. ‘ Ich habe dann in einem etwas merkwürdigen Laden gearbeitet, einem großen Warenhaus. Da habe ich sogar Geld verdient. Erst habe ich fünf Tage gearbeitet, dann vier, dann drei, immer weniger. Ich kaufte Farbe und habe gemalt. Sowas wie eine Ausbildung habe ich bei uns im Dorf von Jan Meier bekommen, ein halbes Jahr lang einen Abend in der Woche zeichnen, malen und aquarellieren und einen Abend im Monat mit Lehm arbeiten; zweieinhalb Jahre bei Roland van den Berg einen Nachmittag in der Woche; schließlich drei Monate Rijksacademie, aber da war ich nur zwei Abende in der Woche. Inzwischen verkaufte ich das eine oder andere und begann auszustellen. Ich wohnte zwar noch immer bei meinen Eltern, aber konnte tun und lassen was ich wollte. Ich fand es klasse, bei der Rijkacademie zugelassen zu sein, aber das war auch alles, viel gegeben hat mir das nicht. Als ich danach gerade noch unter die Künstler-Versorgung fiel, war ich zu hundert Prozent Künstler. Else Mulder hat mich 1980 an die Ateliers ‘63 empfohlen. Aber musste ich mir in Haarlem erzählen lassen, was ging und was nicht? Für meine Karriere wäre es vielleicht gut gewesen, aber ich wollte per se meinen eigenen Weg gehen. Das Kleinhalten, das man sich da gefallen lassen muss, wahrscheinlich hätte ich zu Herrn Dibbets gesagt: pfff. Die ganze Kunstwelt ist eine Art Gesellschaftsspiel. So bin ich großenteils Autodidakt. Es ist eine Bauernmentalität, auf deinem eigenen Grund und Boden bestimmst du, was du tust. Ich bin ein sehr guter Maler in einer bestimmten Tradition, der ich treu bleibe und die ich weiter entwickle.


Die Suche nach der Tradition in der Kultur, hat das auch damit zu tun, dass du keine Ausbildung gemacht hast?
Das Interesse war vorhanden, ich hätte auch was lernen können, aber ich wollte alles aufmeine eigene Art entdecken. Ich hab‘ was übrig für die Theorie von Herakleitos und Nietzsche: nur die Form ändert sich, die Essenz bleibt gleich. Vielleicht romantisiere ich das Leben doch auf eine Art, weil ich mit dem täg liche Leben manchmal nicht klar komme. Ich war zweimal verheiratet und beide Male ging‘s schief. Jetzt bin ich einundvierzig und gehe am liebsten mit Mädchen unter Zwanzig aus (da hast du‘s wieder, das Romantisieren der Unschuld). Wo findet man das auch? In der Literatur. Ich kaufte Farbe und malte und gleichzeitig legte ich meine Bibliothek und meine Grammophonplattensammlung an. Von den ersten verkauften Zeichnungen kaufte ich mir die Neunte von Beethoven. Durch die Geschichte derPhilosophie von Störig wurde ich fasziniert von Schopenhauer, Nietzsche und Kierkegaard, die ich dann gelesen habe. Kees Fens hat mal gesagt: du kaufst ein Buch und sofort hast du eine Lücke. Also kaufst du noch ein Buch. So kommt man schnell an dreitausend Bücher. Mein Deutsch habe ich von Wagner gelernt, durch das Vergleichen seiner Librettos mit den englischen Übersetzungen. Und viel reisen, Pilgerreisen und Gräber besuchen. Die Urne von Thomas Hardy zum Beispiel, das Grab von Proust, von Gauguin. Als ob wir verwandt wären. Für die Musik von Bach, die ich auch sehr liebe, habe ich noch keine eigene Form gefunden, so wie für die von Mahler und Bruckner. Damit bin ich noch nicht fertig.


Du kannst Bach noch nicht übersetzen.
Nee, das kann ich noch nicht übersetzen.


Was ich meine, ist, dass Bildformen ihre eigene Dynamik entwickeln, wenn du musikalische Ein- drücke in ein Bild umwandeln willst. Eine Dynamik, der du dich selbst als eine Art von Instrument vielleicht unterwerfen musst.
All die Anekdoten sind eigentlich nicht so wichtig, das Bild ist das Relevante. In der Kunstkritik werde ich zusammen mit Frank Auerbach, Leon Kossoff und Marc Mulders unter ‘Dickmaler‘ eingeordnet, weil die Arbeiten so pastos sind. Als ob es damit getan wäre! Auerbach ist ein viel ästhetischerer Maler als Kossoff, obwohl man sie über einen Kamm schert. Kossoff ist viel emotionaler, wohingegen der Schwede Evert Lundquist ein Materialmaler ist. Marc Mulders finde ich einen sehr guten Maler, leider vergrößert er sein Repertoire nicht. Er kann mehr, als er jetzt sehen läßt. Ich frage mich immer: was meint er wirklich? Jemanden, der genauso alt ist wie man selbst, beurteilt man immer strenger als jemanden, der sich schon bewiesen hat. Wir müssen uns noch immer beweisen. Wie ich mich beweise? Durch die Interpretation des neunzehnten Jahrhunderts.

Den Reiz eines Gemäldes sollten die malerischen Qualitäten ausmachen, nicht ein abgebildetes literarisches Thema. Was mich interessiert, ist die von dir gewählte bildnerische Form, die erst dich mit- reißt, und schliesslich auch den Betrachter. Denn es ist der Betrachter, der den visuellen Eindruck um- setzen muss, der ein Kunstwerk daraus entstehen lässt. Die bildnerische Form nun geht eine Beziehung ein mit einem literarischen, musikalischen oder kulturhistorischen Thema, aber es ist ihre Tragik — um mit dem Literatursoziologen Lukäcs zu sprechen — dass sie sich aus dieser Beziehung auch ‘frei singen‘ muss, sich losreißen muss, um ein autonomes, ästhetisches Objekt zu werden. In dein Werk hat sich diese Auseinandersetzung, die eine Auseinandersetzung mit der Literatur ist, aber auch eine zwischen Abstraktion und Figuration, so sehr in die Form und die Materie eingefressen, dass das Schwarz, die definitive tragische Farbe, für dich die adäquateste Farbe geworden ist. Rudi Fuchs sagt in einem Vorwort für die Ausstellung ‘Visual Excitement‘, die du 1994 als ‘Plädoyer für die Malerei‘ organisiert hast, und in der Arbeiten von etablierten und jungen Malern zu sehen waren, dass ‘die Malerei in diesem Jahrhundert hart kämpfen musste‘. Die Maler, die du für die Ausstellung ausgewählt hattest, verbindet die Kombination aus malerischer Eigenart mit emotionalem Engagement. Sie malen, wie du, klassische Genres. Kirchen, Landschaften, Stadtansichten, Modelle, lnterieurs, Selbstporträts. Aber auch klassische Themen wie biblische, kunst- und kulturhistorische Inhalte. Die Themen werden Teil eines Umsetzungsprozesses in dem es vor allem um die Anwendung der Farbe als Material geht. Es wird pastos gemalt, die Dar- stellung deformiert bis an die Grenze zur berühmten dritten Dimension, über die Cezanne sprach — bis ein Bild entsteht aus allerlei Schattierungen zum Schwarz hin. Man könnte auch von einem horror vacui sprechen. Die Leinwand wird so dick, so dicht und so beladen, dass die ursprüngliche Idee, eine Erfahrung aus dem Augenblicklichen zu retten, bei- nahe ins Gegenteil umschlägt. Die Verewigung der Erfahrung wird zu ihrer Vernichtung. Durch diese Deformation des Themas bleibt schließlich — wie es in Zusammenhang mit deinem Werk gesagt wurde — ein mit einem Albtraum behaftetes Bild übrig. Du bist unzweifelhaft immer auf der Suche nach Urformen. Du machst zum Beispiel Skizzen in einer alten romanische Kapelle, setzt den etwas schiefen Kirchturm von Muiderberg in vergleichbaren Pinselstrichen neben die Kathedrale von Canterbury und die Andreaskirche von Katwijk; außerdem greifst du auf die archetypischen Themen der alten Meister zurück. Gleichzeitig scheinst du die Urformen entweder mit Kuhfladen dichtzuschmieren oder in so vielen Variationen wiederzugeben — es scheint, dass eine Version nicht genug wäre, um das Thema auszuarbeiten — dass der Betrachter suchen muss nach der Form. In der Wahrnehmung eines sehr starken Bildes, das zugleich erscheint und verschwindet, einer Urform, die aus der Farbe formuliert wird und zugleich in sie zurücksinkt, darin liegt, denke ich, die Faszination deiner Werke.
Der Anfang meiner Malerei ist klassisch. Ich fange mit einer Breitnerartigen Leinwand an und dann mache ich weiter; wie ein Bauer, der sein Land bearbeitet, bis ich einen Jan de Beus habe. Zum Ende hin steht die Vernichtung des Motives im Vordergrund. Den Ursprung der Darstellung kann man in meinen Radierungen gut erkennen, die das Dargestellte weniger deformiert zeigen. Aber die Gemälde werden in der Tat zerstört, bis eine Art figurative Materialmalerei entsteht. Die Zerstörung wird fortgesetzt bis zur Vollendung.


Du nutzt die Zerstörung also als Mittel, etwas zu formen. Warum brauchst du die Zerstörung und was soll durch sie entstehen?
Die Form ist das fertige Bild, aber die Form entsteht aus der Kraft und den Möglichkeiten, die die amorphe, erdartige Farbe hat. Dadurch entsteht ein Bild, das wenn es ein gutes ist, seine Geheimnisse nicht direkt preisgibt.


Lass uns jetzt mal versuchen, den Prozess zusammenzufassen: du strebst die Rückkehr zu deiner authentischsten Erfahrung an. Die haben wir als die Erfahrung von Einheit und Freiheit bestimmen können. Es gibt Urformen, die die Andeutung dieser Erfahrung in sich tragen (die Landschaft, die Jugend, die Geliebte, die romantische Künstlerschaft) und zu denen du in deinen Bildern Verbindung suchst. Aber was schließlich stattfindet, ist eine Vernichtung, eine Zerstörung des Dargestellten. In diesem Entstehungsprozess ist an irgendeiner Stelle ein Punkt, an dem die Zerstörung beginnt kreativ zu wirken und etwas im Bild erscheint, das du das Geheimnis nennst, das sich nicht oder nicht direkt offenbart. Die kapitale Erfahrung, um die es am Anfang ging, wird schließlich evoziert als ein Geheimnis, das sich noch ungelöst zeigt: ein Bild, das erscheint und verschwindet in ein und derselben Wahrnehmung.
Diese Zerstörung nenne ich den finishing touch. Sie ist in keiner Weise ein ‘Kaputtmachen‘ ‚ denn dann wäre sie misslungen und ich müsste von vorne anfangen. Nein, es ist das Aufgeben der belle peinture in einer Art malerischem Orgasmus. Und das immer und immer wieder.


Mit zerstören meine ich auch das ‘Brechen‘ von Bedeutungen in der Auseinandersetzung von moderner Subjektivität und Tradition. Es ist darum auch kein Problem, dass du dich militant oder sogar zerstörerisch der Tradition gegenüber verhältst, weil aus dieser Auseinanderstezung neue Bedeutungen entstehen, die du der Tradition zurückgibst und durch die du sie bereicherst. Gut, die Bilder bleiben geheimnisvoll, zwingen uns zum Nachspüren, aber dadurch betrachten wir sie auch länger und wickeln nicht — wie Reve mal von den literarischen Rezensionen behauptete — morgen den alten Fisch darin ein. Deine Arbeiten geben vielleicht nicht die authentische Erfahrung selbst wieder, aber sicher die Ankündigung und den Untergang davon; der Höhepunkt, das Erlebnis der Schönheit, liegt dazwischen und muss vom Betrachter selbst realisiert werden. In diesem Sinne, denke ich, bist du ein Maler des ‘Sublime‘. Du überwältigst, ‘brichst‘ und versprichst etwas, forderst das Vorstellungsvermögen des Betrachters heraus. Es liegt bei ihm oder ihr, das Geheimnis zu konkretisieren, oder vielleicht als Banalität zur Seite zu legen.
Bilder, die ihre Geheimnisse nicht sofort preisgeben, das sind Bilder, die man lange betrachten und in denen man viel entdecken kann.


Auch dieses Betrachten und Entdecken muss immer und immer wieder passieren.